Man sucht sie vergeblich: Gravitationsfreie Räume gibt es auf der Erde nicht. Dabei wäre es spannend, zu sehen, wie sich unter fehlender Schwerkraft neue Materialien formen, Zellen verhalten, etwa um Krebstherapien zu entwickeln, oder auch wie das neue Coronavirus unter Mikrogravitation andockt. Yuri ermöglicht passgenaue Experimente, fast schon für jedermann …

 

Bilder: © yurigravity.com

 

Zehn Kubikzentimeter große Boxen, gefüllt mit menschlichen Zellen, versorgt mit einer Nährstofflösung – in 400 Kilometer Höhe. Der deutsche Astronaut Matthias Maurer begleitet die Forschungs-Racks auf der Internationalen Raumstation ISS. Mit an Bord: über 100 Experimente, darunter 35 mit deutscher Beteiligung. So haben die Berliner Charité und Gothe-Universität Frankfurt Zellkukturen auf die ISS geschickt. Sie sollen Aufschlüsse über molekulare und zellphysiologische Details im menschlichen Immunsystem und der Muskulatur unter Mikrogravitation geben. Also nahezu ohne Einflüsse der Schwerkraft.

Yuri – genau: Der Name des Start-ups ist angelehnt an Juri Gagarin, dem ersten Menschen im All. Nicht weniger spannend lesen sich die Angebote des Unternehmens am Bodensee um die Gründer Maria Birlem, Christian, Bruderrek, Philipp Schulien und Mark Kugel: Als Weltraum-Ingenieure und Technologiemanager ermöglichen sie mit yuri kommerzielle Forschung in Schwerelosigkeit – auf Parabelflügen, Raketenflügen und der ISS.

Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nur gewinnen, wenn Experimente der Schwerkraft entfliehen. Und es gibt Fluchtmöglichkeiten: Falltürme, Zero-G-Parabelflüge und Forschungsraketen schalten die Schwerkraft sekunden- oder minutenweise herunter. Oft ist dies bereits ausreichend, um die Eigenschaften von biologischen Systemen oder Werkstoffmaterialien genauer zu analysieren, als es im Labor möglich ist. Für längere Experimente greift yuri auf die ISS zurück. Das 2019 gegründete Start-up hat seinen Head Quarter in Meckenbeuren, unweit von Airbus und ZF Friedrichshafen. Es ermöglicht großen wie kleinen Unternehmen und Forschungseinrichtungen Experimente in Mikrogravitation, und verspricht schneller und erschwinglicher als in bisherigen Missionen zu sein. Einige Experimente kann yuri mit dem eigens entwickelten Klinostaten dann sogar auf der Erde ausführen.

Die Weltraumforschung ist Treiber vieler Innovationen: von Stress- und Hirnforschung, Forschung zu neurodegenerativen Erkrankungen, Immunkrankheiten oder Entstehung von Tumoren bis hin zu Materialwissenschaften und Mikroelektronik. In der Biomedizin und Biotechnologie erhofft man sich, durch neue Erkenntnisse sowohl auf Gen- als auch Zellebene innovative Ansätze zu entwickeln. Das Spektrum? Nicht weniger unendlich: Es reicht von Grundlagenforschung bis hin zu individuellen, personalisierten Therapien.

Proteinforschung: Schwerkraft-freie Umgebung ermöglicht den Blick ins Detail

Viele Zellen bzw. Zellbestandteile wie Proteine sind außerhalb ihrer natürlichen Umgebung instabil. Sie zerfallen im Labor schnell und erschwert die Analyse ihrer Struktur, Funktion und den Kontakt mit anderen Zellbestandteilen. Hier kommt die Mikrogravitation ins Spiel: Dort, wo sich Schwerkraft und Zentrifugalkraft infolge der Orbitbewegung fast aufheben, sind detailgenaue Darstellungen möglich. Während auf molekularer Ebene die Expression von Genen abläuft, ist die Funktion der Genprodukte – der Proteine – durch ihre hochspezifische räumliche Struktur bestimmt. Erst wenn Proteine spezifisch gefaltet vorliegen, können sie ihre Funktion erfüllen.

Die Analyse der Proteinstruktur ist zur Klärung der Wirkweise und Zusammenhänge im biologischen System essenziell. Und ebendiese komplexe Struktur zerfällt naturbedingt schnell. Abhilfe schafft hier eine gravitationsarme Umgebung, denn hier gibt es weder Ablagerungen noch Konvektionen. Dies macht Kristallisationsexperimente möglich, wie sie auf der Erde nur schwer realisierbar sind. Die genaue Kenntnis der räumlichen Struktur hilft, Funktionen und Eigenschaften besser zu verstehen, um z. B. pharmazeutische Anwendungen zu entwickeln. Auf ihrer Reise in eine gravitationsarme Umgebung erfahren die Zellen zunächst noch einen ordentlichen Kälteschock. So bleiben sie durch Kryokonservierung unter flüssigem Stickstoff vital.

 

Networking losgelöst – Zellforschung ohne Schwerkraft

Networking auf Zellebene ist ein riesiges Thema. Wenn man bedenkt, welch riesiges Netzwerk unser Körper darstellt, ist das starke Interesse an den Zellverbindungen nur allzu logisch: 100 Billionen Zellen bilden als Haut- und Nervenzellen ein Gewebe oder als Körperzellen Organe. Sie fließen als Blutzellen durch Arterien, Venen und Kapillaren. Als Immunzellen jagen sie nach fremden und schädigenden Stoffen. Das alles geschieht nicht isoliert: Jede einzelne Zelle nimmt ihre Umgebung, um ihre Funktion ausführen zu können. So können unreife Zellen durch „Abtasten“ und „Ziehen“ an Oberflächen taktil erkennen, ob die Umgebung hart oder weich ist und sich in eine entsprechende Zelle, z. B. Knochenzelle, ausdifferenzieren. Durch eine genaue Kenntnis über diese Vorgänge könnte man beispielsweise spezifisch Stammzellen zum Wachstum anregen.

Eine weitere Kontaktmöglichkeit sind Zellmembran-Proteine, die Oberflächenrezeptoren. Docken an den Rezeptoren kleine Moleküle an, werden chemische Signale ins Zellinnere geleitet. Klar, Signale bleiben nicht unerkannt: Sie veranlassen die Zelle zu weiteren Aktionen, wie etwa das An- und Ausschalten von Genen. Dies ist beispielsweise für die Krebsforschung interessant.

Und was passiert beim Andockprozess des Coronavirus Sars CoV-2 an die Zelle? Genau hier sind Strukturanalysen wertvoll, u. a. zur Andockstelle des Virus-Oberflächenproteins an die Wirtszelle – mit Fokus auf die Spaltstelle. So könnte man die verschiedenen Faltungen, die das Spike-Protein kurz vor Eintritt in die Zelle durchmacht, besser darstellen – als Ansatz für eine möglichen Therapie.

Ein weiterer Aspekt liegt auf der Osteoporose-Forschung. Astronauten erfahren im Laufe ihres Weltraum-Aufenthalts einen Knochen- und Muskelabbau. Solche Missionen bieten die einzigartige Situation, die Rolle der Schwerkraft und der Belastung auf Knochen bzw. deren Abbau genau zu untersuchen. Die Weltraumtechnik ermöglicht einen Einblick in die knöcherne Mikroarchitektur. Denn schließlich ist selbst im Erwachsenenalter das Skelett ständig im Werden, es findet ein permanenter Umbau statt. Es geht also nicht um eine simple und oft hinterfragte Knochendichtemessung, sondern um Aufschluss der strukturellen Integrität auf zellulärer Ebene, die für die Festigkeit des Knochens entscheidend ist.

 

 

Gruender von yuri microgravity, Blog Forschung in Schwerelosigkeit

Die Gründer von yuri microgravity in Meckenbeuren (© yurigravity.com)

 

Geschwächtes Immunsystem im Weltall – als Simulationsobjekt

Ein noch immer nicht komplett gelöstes Rätsel ist das Immunsystem. Neue Zusammenhänge kann die Analyse der Blutzellen von Astronauten ans Licht bringen. Denn das Immunsystem wird unter Weltraumbedingungen geschwächt. So ist quasi ein Simulationsobjekt möglich.

Antworten auf spannende Fragen kann man so vielleicht näherkommen. Lassen die Erkenntnisse über die beeinträchtigte Immunfunktion in Schwerelosigkeit auf generelle Ursachen der Immunschwäche rückschließen? Auch in der Umweltmedizin können Immun-Testsysteme unter Mikrogravitation genutzt werden. Welche Umweltproben und -analysen haben einen schädigenden Einfluss auf das Immunsystem? Dazu lassen sich z. B. Experimente mit Miesmuschel-Zellen unter Mikrogravitation heranziehen. Mit einem entscheidenden Vorteil: Tierversuche könnten so vermieden werden, wie sie sonst bei vielen toxikologischen Untersichungen vorgenommen werden.

 

Biologische Systeme und neue Oberflächen

Die Schwerelosigkeit dient nicht nur der Analyse von biologischen Systemen, sondern auch als Mittel zum Zweck: Schwerelose Viren als molekularbiologische Vehikel sind stärker infektiös. So lässt sich genetisches Material in Zellen effeltiver einschleusen, die Genexpression beeinflussen und die Resultate daraufhin analysieren.

Auch biologische Oberflächen können ins Visier genommen werden. Dazu wird die Stressantwort von Bakterien untersucht, die im Weltraum hoch ist. Mithilfe speziell entwickelter antimikrobieller Kontaktkatalysatoren lassen sich Oberflächen beschichten, die gefährliche Biofilme aus Bakterien, Pilzen oder anderen Mikroben zerstören. Werden die Grenzen der zugrunde liegenden Metalltechnologie durch Forschung in Schwerelosigkeit durchbrochen, könnten sich so neuartige Anwendungen im Hygienebereich ergeben, z. B. in Krankenhäusern oder der Klimatechnik.

 

Living in a box – Das Labor in Schachtelgröße

Das Start-up yuri ermöglicht es Forschern, Auswirkungen der Schwerkraft-freien Umgebung auf Zellen, Werkstoffe und Pflanzen zu analysieren. Der Raum dazu? Schwindelfreie Kästchen, in Größe eines Smartphones. Unter Anleitung von yuri können so z. B. bestimmte Gewebe auf ein Gitternetz fixiert oder Zellkulturen im Miniaturformat angelegt werden. Die Forschungskammer wird mit minituarisierter Pumpe und Tanks für die Nährstoff- und Fixierlösung der Zellen angeschlossen. Für ein Experiment auf der ISS müssen im Idealfall die Astronauten die Forschungsboxen nur in eine Plattform stecken, um die Experimente automatisch ablaufen zu lassen. Was auch immer untersucht werden soll, es reist angepasst modularisiert in den Forschungsschränken auf der ISS, in Raumkapseln, in Raketen bei Suborbitalflügen oder bei Parabelfügen.

 

 

Experimentenkästchen yuri microgravity - Forschung in Schwerelosigkeit

Cellbox, Forschungskästchen von yuri microgravity – bereit zum Abheben (© yurigravity.com)

 

 

Als Forscher ohne Schwerkraft dabei – von Falltürmen, Parabelflügen bis zur ISS

Als Auftragsgeber und Forscher wäre man am liebsten selbst dabei. Den Traum eines ISS-Astronauten mag man gerne weiterträumen, eine Versuchsbegleitung ist dennoch möglich: Bei Fallturm-Experimenten oder sogar auf Parabelflügen in einem 20-sekündigen Sturz auf den Boden. Das Freefall-Experiment wird dann gleich mehrmals hintereinander ausgeführt. Ohne langes Anstehen.

Sicher, viele Experimente erfordern eine deutlich längere Dauer der Mikrogravitation. Sie lässt sich mit suborbitalen Raumflügen erreichen, bei denen eine Rakete bis an die Grenzen des Weltraums in über 100 km Höhe gestartet wird und anschließend zur Erde zurückfällt. Da die Dauer mit fünf bis zehn Minuten noch immer vergleichsweise kurz ist, ermöglicht yuri den orbitalen Raumflug in der Umlaufbahn durch die ISS. Mit seiner Expertise kürzt yuri Zertifizierungsschleifen ab: Das Unternehmen stellt Versuchsaufbauten und Plattformen zur Verfügung, kümmert sich um administrative Vorgänge – und macht letztendlich Startslots frei. So soll der meist mehrere Jahre dauernde Prozess vom Kickoff bis zum Start im Idealfall auf 6 Monate verkürzt und Kosten minimiert werden.

 

Was auch immer erforscht werden mag – sicher wird man nicht wie einst von Juri Gagarin hören „Ich weiß nicht, wer ich bin: der erste Mensch oder der letzte Hund im Weltall“. Aber vielleicht, dass gerade die erste Entdeckung eines wertvollen Materials oder biologischen Vorgangs gemacht worden ist.

 

Den Fachartikel für BIOPRO Baden-Württemberg finden Sie hier: Senkrechtstart in der Schwerelosigkeit – ein Start-up ermöglicht kommerzielle Forschungsexperimente im All

 

(Beitrags-Startbild: © yurigravity.com)