(von Vladimir Jakovljevic, Simone Giesler)

Seit mehr als einem Jahr hat uns ein unsichtbarer Feind fest im Griff: das Virus SARS-CoV-2. Der Umgang mit der COVID-19-Pandemie hat die wissenschaftlichen, technologischen, medizinischen und wirtschaftlichen Grenzen der Menschheit erreicht.

Da die Bedeutung des Mikrobioms für unsere Gesundheit mehr und mehr akzeptiert wird, wollen wir prüfen, welches Wissen über die Zusammenhänge zwischen Mikrobiom und COVID-19 es bereits gibt und wie wir es im Kampf gegen diese schreckliche Krankheit nutzen können.

 

Mikrobiom und Prävention von COVID-19

 

Das Immunsystem hat die wichtige Aufgabe, Selbst von Nicht-Selbst zu unterscheiden. Seit Millionen von Jahren besteht eine Koevolution von Wirt und Darmmikroben. Darmmikroben sind entscheidend für die Entwicklung und Funktion unseres Immunsystems. Sie helfen dabei, den Zellen unseres Immunsystems zu „lehren“, wie sie fremde Moleküle (Antigene) erkennen und je nachdem, was wir den Darmbakterien „als Futter“ vorsetzen, produzieren sie bestimmte Stoffwechselprodukte. Diese entstandenen Metabolite regen unser Immunsystem an, Krankheitserreger anzugreifen oder Substanzen freizusetzen, die die körpereigenen Immunreaktionen verstärken. Im Allgemeinen ist sich die Forschung einig, dass eine größere mikrobielle Vielfalt (Diversität) im Darm mit einer stärkeren Immunität, einschließlich einer stärkeren antiviralen Reaktion, verbunden ist.1,2

Falsche Ernährung, fortgeschrittenes Alter, übermäßiger Gebrauch von Antibiotika und Medikamenten, Übergewicht, Diabetes, Immunerkrankungen oder Bluthochdruck: Dies alles sind Faktoren, die nachweislich die Diversität des Darmmikrobioms verringern. Doch gerade Menschen mit solchen Faktoren oder Erkrankungen sind am anfälligsten für eine Infektion mit SARS-CoV-2.3,4 Obwohl detailliertere Zusammenhänge zwischen dem Darmmikrobiom und der Anfälligkeit für COVID-19 noch untersucht werden müssen, lässt sich folgende Aussage bereits treffen: Eine Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Darmmikrobioms durch gezielte Ernährung, Nahrungsergänzung oder fäkale Mikrobiota-Transplantationen (FMT) könnte potenziell lebensrettend sein und zu einer besseren Gesamtimmunität gegen COVID-19 beitragen.4,5

Akutes Lungenversagen, fachsprachlich als „Acute Respiratory Distress Syndrome“ (ARDS) bezeichnet, ist eine schwere und oft tödlich verlaufende, entzündliche Erkrankung der Lunge, die als Folge einer Infektion mit SARS-CoV-2 auftreten kann. Es hat sich gezeigt, dass die von den Darmmikroben produzierten Metaboliten die Immunreaktionen im Lungengewebe beeinflussen. Umgekehrt beeinflussen Signalmoleküle aus der Lunge (z. B. Moleküle, die bei einer Lungenentzündung freigesetzt werden) unsere Darmmikrobiota, also die Gesamtheit der Darmbakterien. In der Literatur wird dieser bidirektionale Austausch, der über das Blut verläuft, oft als mikrobielle „Darm-Lungen-Achse“ bezeichnet.4,6 Auch die Mikroben der oberen Atemwege – im Mund, Nase und Rachen – spielen bei der Infektion mit SARS-CoV-2 eine Rolle und können schließlich zu Koinfektionen mit anderen Erregern führen, was das Krankheitsbild weiter verkompliziert. Mikrobiom-basierte Mund- oder Nasensprays oder Mundspülungen wurden als sofortige Prävention der SARS-CoV-2-Infektion vorgeschlagen.7

In den nächsten Monaten werden hunderte von Millionen Menschen weltweit gegen COVID-19 geimpft werden. Obwohl sehr selten, können Impfstoffe schwerwiegende Nebenwirkungen auslösen, vor allem bei älteren Menschen und Menschen mit geschwächtem Immunsystem.8 Verbessert man die Immunität durch Eingreifen auf das Mikrobiom, könnte dies auch die globale Impfkampagne gegen COVID-19 positiv beeinflussen.

 

Mikrobiom und Krankheitsverlauf sowie Behandlung von COVID-19

 

Mehrere aktuelle Studien berichten über signifikante Veränderungen des Darmmikrobioms. Dabei ließen sich bei der Mehrheit der COVID-19-Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf eine Darmdysbiose beobachten, also ein Ungleichgewicht der Darmmikroben. Die Studien wurden durch die Befunde aus der SARS-Epidemie 2003 gestützt: Auch damals konnte man bei etwa 40 % der schweren Fälle von Infektionen mit SARS-CoV-1, einem mit SARS-CoV-2 verwandten Virus, eine Darmdysbiose nachweisen.3,9-11

Im Folgenden werden mehrere mögliche Zusammenhänge zwischen dem Darmmikrobiom und dem Verlauf von COVID-19 aufgeführt, die in naher Zukunft dringend untersucht werden müssen:

Zunächst einmal können unsere Darmbakterien direkt mit den Viren interagieren, indem sie eine virale Infektion erleichtern, eine Infektion durch Freisetzung antiviraler Wirkstoffe verhindern oder unser Immunsystem stimulieren. Allerdings kann eine übermäßige Stimulation des Immunsystems auch einen negativen Effekt haben: Wenn beispielsweise die Zellen in unserer Lunge aufgrund einer Entzündung zerstört werden, kommt es zur Freisetzung von pro-inflammatorischen Botenstoffen (Zytokinen). Wurde unser Immunsystem bereits durch eine andere Entzündung in Alarmbereitschaft versetzt, z. B. aufgrund der Darmdysbiose, kann es zu einer gefährlichen, massiven Freisetzung dieser entzündungsfördernden Botenstoffe kommen, dem sogenannten Zytokinsturm. Die meisten der Todesfälle von COVID-19-Patienten mit akutem Atemnotsyndrom oder anderem Organversagen wurden letztendlich auf den Zytokinsturm zurückgeführt. 12-14 Daher könnte eine Anreicherung des Darmmikrobioms mit spezifischen Mikrobenstämmen oder deren Produkten, die eine entzündungshemmende Aktivität aufweisen oder induzieren, ein entscheidender Faktor bei der Behandlung schwerer COVID-19-Verläufe sein. Aktuelle und äußerst interessante Studien auf diesem Gebiet führt die Firma Kaleido Biosciences durch.

Ein Enzym namens ACE2 (Angiotensin-Converting Enzyme 2), ist der Haupteintrittsweg des SARS-CoV-2 in menschliche Zellen. ACE2-Moleküle befinden sich auf den Zellen unserer Blutgefäße, unserer Lunge und verschiedener anderer Organe, einschließlich des Darms. Sie spielen eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des Blutdrucks und haben verschiedene andere Funktionen im Körper. Die Regulation von ACE2 ist komplex und hängt von genetischen und umweltbedingten Faktoren ab. Obwohl das detaillierte Zusammenspiel zwischen ACE2 und COVID-19 noch nicht geklärt ist, wurden bei vielen COVID-19-Patienten mit schweren Verläufen erhöhte ACE2-Spiegel im Darm nachgewiesen. Es ist allgemein bekannt, dass bei Darmdysbiose und pro-inflammatorischen Zuständen der ACE2-Spiegel erhöht ist. Umgekehrt senken einige Arten von Darmbakterien den ACE2-Spiegel und auch die Menge von SARS-CoV-2 in den Stuhlproben.4,9,15

Generell ist alles, was unser Darmmikrobiom in ein Ungleichgewicht bringt, ein potenzieller Risikofaktor für einen schlechten Verlauf von COVID-19. Neben Personen mit Vorerkrankungen und Risikofaktoren sind Patienten, die viele Medikamente einnehmen, eine besonders gefährdete Gruppe. Leider sind viele der Medikamente, die zur Standardbehandlung von COVID-19 eingesetzt werden, wie z. B. Antibiotika, Paracetamol oder Glucocorticoide, dafür bekannt, dass sie eine Darmdysbiose verursachen. 3,12

 

Mikrobiom und Genesung von COVID-19

 

Müdigkeit, Husten, Engegefühl in der Brust, Kurzatmigkeit, Herzklopfen, Muskelschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten sind einige der Symptome, die bei einzelnen COVID-19-Patienten beschrieben wurden. Sie halten über Wochen oder Monate an und werden als „Long COVID“ oder „Post-COVID-Syndrom“ bezeichnet. Die Ursachen für das Post-COVID-Syndrom sind nicht bekannt, können aber auf Organschäden oder einen anhaltenden niedrigschwelligen Entzündungszustand im Körper zurückzuführen sein.16 Für Letzteres könnte die Darmmikrobiota eine wichtige Rolle spielen und mehrere Studien unterstützen diese Hypothese. Zum Beispiel zeigen viele COVID-19-Patienten gastrointestinale Symptome wie Erbrechen und Durchfall, während bei anderen dies nicht auftritt. Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass eine Darmdysbiose bei COVID-19-Patienten bis zu 30 Tage nach Entlassung aus dem Krankenhaus nachweisbar ist. Die Darmdysbiose scheint auch unabhängig von einer Antibiotikatherapie während der Infektion zu sein. Dies unterstreicht die Notwendigkeit eines begrenzten Einsatzes von Antibiotika, um nicht noch mehr in das Darmmikrobiom einzugreifen – es sei denn, es liegt eine sekundäre bakterielle Infektion vor. 3,11

 

Inwieweit die Darmdysbiose für eine SARS-CoV-2-Infektion bzw. einen schweren Krankheitsverlauf empfänglich macht und inwieweit sie eine Folge davon ist, ist noch nicht vollständig geklärt. Weitere Studien sollten den Zusammenhang zwischen Ernährung, Darmmikrobiota und Genesung von COVID-19 genauer untersuchen.

Daher ist es äußerst wichtig, den Zusammenhang zwischen Ernährung, Darmmikrobiota und Verlauf sowie Genesung von COVID-19 durch weitere Studie zu untersuchen und darzulegen.

 

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About the Author

Vladimir Jakovljevic

Vladimir got his PhD in molecular microbiology from the University of Heidelberg, Germany. He has been working as a researcher more than fifteen years, studying microorganisms. He is an author and co-author of numerous highly-cited publications and contributor to the various international and interdisciplinary projects, as scientific expert and manager. Since 2020, he is owner and founder of the Microbiome Power.

Simone Giesler

Simone holds a degree in biology. After working as researcher in a biotech company and in press and public relations at Heidelberg University Hospital, she set up her own business as freelance editor and author.

 

Referenzen zum Artikel

1 Negi, S., Das, D. K., Pahari, S., Nadeem, S. & Agrewala, J. N. Potential Role of Gut Microbiota in Induction and Regulation of Innate Immune Memory. Front. Immunol. 10, (2019).
2 Segal, J. P. et al. The gut microbiome: an under-recognised contributor to the COVID-19 pandemic? Ther. Adv. Gastroenterol. 13, 1756284820974914 (2020).
3 Villapol, S. Gastrointestinal symptoms associated with COVID-19: impact on the gut microbiome. Transl. Res. 226, 57–69 (2020).
4 Spagnolello, O. et al. Targeting Microbiome: An Alternative Strategy for Fighting SARS-CoV-2 Infection. Chemotherapy 1–9 (2021) doi:10.1159/000515344.
5 Din, A. U. et al. SARS-CoV-2 microbiome dysbiosis linked disorders and possible probiotics role. Biomed. Pharmacother. 133, 110947 (2021).
6 Khatiwada, S. & Subedi, A. Lung microbiome and coronavirus disease 2019 (COVID-19): Possible link and implications. Hum. Microbiome J. 17, 100073 (2020).
7 Bao, L. et al. Oral Microbiome and SARS-CoV-2: Beware of Lung Co-infection. Front. Microbiol. 11, 1840 (2020).
8 Torjesen, I. Covid-19: Norway investigates 23 deaths in frail elderly patients after vaccination. BMJ 372, n149 (2021).
9 Zuo, T. et al. Alterations in Gut Microbiota of Patients With COVID-19 During Time of Hospitalization. Gastroenterology 159, 944–955.e8 (2020).
10 Zuo, T. et al. Depicting SARS-CoV-2 faecal viral activity in association with gut microbiota composition in patients with COVID-19. Gut 70, 276–284 (2021).
11 Yeoh, Y. K. et al. Gut microbiota composition reflects disease severity and dysfunctional immune responses in patients with COVID-19. Gut 70, 698–706 (2021).
12 Donati Zeppa, S., Agostini, D., Piccoli, G., Stocchi, V. & Sestili, P. Gut Microbiota Status in COVID-19: An Unrecognized Player? Front. Cell. Infect. Microbiol. 10, 576551 (2020).
13 Hojyo, S. et al. How COVID-19 induces cytokine storm with high mortality. Inflamm. Regen. 40, 37 (2020).
14 Han, H. et al. Profiling serum cytokines in COVID-19 patients reveals IL-6 and IL-10 are disease severity predictors. Emerg. Microbes Infect. 9, 1123–1130 (2020).
15 Oz, M. & Lorke, D. E. Multifunctional angiotensin converting enzyme 2, the SARS-CoV-2 entry receptor, and critical appraisal of its role in acute lung injury. Biomed. Pharmacother. 136, 111193 (2021).
16 Raveendran, A. V., Jayadevan, R. & Sashidharan, S. Long COVID: An overview. Diabetes Metab. Syndr. Clin. Res. Rev. 15, 869–875 (2021).

 

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